Seit sieben Jahren arbeite ich als Diakonin im BEFG (Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden), zuerst in einer kleinen Gemeinde in Berlin-Spandau und seit 2010 in der Baptistenkirche Nordhorn. In meiner Kindheit war Gemeinde ein geschützter Raum, ein Rückzugsort für Menschen, die im System der DDR nicht mitmachen wollten. Gemeinde habe ich immer als Zuhause erlebt. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass wir als Familie im Gemeindehaus gewohnt haben. Gemeinde war und ist für mich der Ort, wo ich mich getragen und geborgen fühle.Bedingt durch das politische System in der DDR war die Trennung zwischen Gemeinde und Welt in meiner Heimatgemeinde unvermeidlich. Aber auch später bestanden die zwei Welten in meinem Kopf weiter. Besonders in der Jugendgruppe habe ich gehört und gelernt, was alles Sünde ist: rauchen, Alkohol trinken, Rockmusik, Sex vor der Ehe. Trotzdem lief bei mir schon immer auch die Frage mit, was mich eigentlich von meinen Freunden in Schule und Studium unterscheidet. Meine Freunde waren immer ganz normale Menschen, die ihr Leben nicht viel anders gestalteten als ich. Die Abgrenzung in schlechte, böse Menschen in der Welt und gute, liebe Menschen in der Gemeinde, konnte ich nie richtig nachvollziehen. Doch anscheinend gab es ja diesen Unterschied und so war mein Missionseifer als Jugendliche groß. Meinen Freunden in der Welt habe ich oft ungefragt den Heilsplan Gottes erklärt oder ihnen aufgezeigt, dass sie trotz ihrem anständigem Leben Sünder sind. Ich fühlte mich dabei innerlich oft unter Druck und im Zwiespalt. Denn eigentlich konnte ich zwischen ihnen und mir nicht viel Unterschied erkennen. Eine Situation ist mir bis heute im Gedächtnis, denn sie hat mein Denken gegenüber den Menschen in der Welt nachhaltig verändert. Eine meiner Freundinnen erzählte mir auf einer Klassenfahrt, dass sie lesbisch ist. Und da hatte ich endlich meine „handfeste“ Sünde gefunden und habe sie darüber aufgeklärt, dass sie in Sünde lebt, natürlich nicht ohne den obligatorischen Satz hinter herzuschieben, dass Jesus, sie trotzdem liebt, auch wenn er die Sünde und ihr Handeln verabscheut. Die Reaktion meiner Freundin hat mich beschämt: Sie hat mich nicht ausgelacht oder stehen lassen, sie hat mich nicht verspottet, sondern sie hat geweint. Sie fühlte sich von mir, von dem, was ich gesagt hatte verletzt und tief getroffen. In diesem Moment habe ich gewusst, dass meine Sicht von Gemeinde und Welt, von Christ und Nichtchrist, nicht einfach nur schwarz-weiß sein kann. Ich habe verstanden, dass es Gottes geliebte Menschen sind und ich nicht einen Deut besser bin als sie. Ich habe gelernt dass es einen Unterschied gibt theoretisch am grünen Tisch über Sünde zu reden und Menschen zu verurteilen und es ihnen ins Gesicht zu sagen. Ich habe gemerkt, dass ich in meinen Freunden keine Menschen auf Augenhöhe gesehen habe, sondern Missionsobjekte. In dem Moment, wo wir reale, tiefe Beziehungen zu Menschen außerhalb der Gemeinde haben, ist das Leben in Gemeinde und Welt nicht mehr so einfach in gut und schlecht aufzuteilen.

Diese und andere Erfahrungen prägen bis heute mein Verständnis von Gemeindearbeit und meinen Dienst. Als Diakonin versuche ich beide Welten miteinander zu verbinden und stelle fest, dass dies nicht einfach ist. Viele Gemeinden drehen sich um sich selbst mit ihren Veranstaltungen und Angeboten. Es geht in erster Linie um uns und unsere Bedürfnisse und Erwartungen an Gottesdienst, Bibelstunde und Lehre. Es geht um unsere Kinder, unsere Jugendlichen und unsere Senioren. Wenn das alles stimmt und läuft, können wir uns auch um die anderen kümmern, dann können wir Freundschaften aufbauen, Leute zu Evangelisationen einladen und diakonisch helfen. Nur leider haben wir dann oft keine Kraft und keine Zeit mehr. Dann wundern wir uns, warum zu unseren Veranstaltungen keine oder nur wenig Gäste kommen. Wir sagen den Leuten ungefragt unsere Meinung zu ihrem Leben, ohne sie zu kennen oder ein wirkliches Interesse an ihrem Leben zu haben. Viele Dinge machen wir für die anderen, anstatt sie mit ihnen gemeinsam zu tun. Wir sind stolz auf das, was wir aus unserem Leben gemacht haben, reden von Gnade und meinen unseren eigenen Verdienst.

In vielen Köpfen und Herzen erlebe ich nach wie vor diese Trennung zwischen Gemeinde und Welt. Das führt auch dazu, dass die Menschen aus der Gemeinde bei denen das Leben nicht so geradeaus und vorzeigbar läuft, nicht mehr kommen oder lernen möglichst gut zu heucheln, dass alles in Ordnung ist. Doch das ist nicht der Auftrag von Gemeinde. Es geht nicht um uns!

Gemeinde ist auf dem Weg. Diesen Weg gehen wir gemeinsam mit den Menschen in Gemeinde und Welt. In Studien, die untersuchen, wie erwachsene Menschen heute gläubig werden, wurde herausgefunden, dass die meisten Menschen zum Glauben kommen, indem sie über längere Strecken begleitet werden. Bedeutend in dem Leben dieser Menschen sind Beziehungen. Fragt man sie, dann erzählen sie von Beziehungen zu „Menschen, bei denen sie sich nie wie Missionsobjekte vorkamen, die aber etwas ausstrahlten von der Freude des Glaubens. Von Menschen, die nicht aus missionstaktischen Gründen Beziehungen pflegten, die aber mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit auch von dem redeten, was ihr Leben im Innersten zusammenhält. Von Menschen, die nicht beim Pizzaessen unruhig hin- und her rutschten, ungeduldig, wann sie endlich ihr Glaubenswissen loswerden könnten, sondern Menschen, die zu reden begannen, als sich die natürliche Gelegenheit ergab, auch von Gott und seiner Gemeinde zu sprechen.“ (Vgl. Michael Herbst, Wachsende Kirche, 29)

Wenn wir von einem Beziehungsweg sprechen, dann wird auch deutlich, dass nicht wir es sind, die den anderen in der Welt helfen müssen. Wir sind nicht diejenigen, die es geschafft haben und die nun die Welt retten müssen. Eine echte Beziehung findet auf Augenhöhe statt. Da ist nicht der eine gesund – der andere krank, die eine reich – die andere arm, der eine hilft dem, der Hilfe braucht. Wenn ich so über meinen Nächsten denke, dann werte ich ihn ab und stelle mich über ihn. In der Bibel lesen wir viele Geschichten in denen die Blinden und Lahmen diejenigen waren die Jesus zuerst als den Messias erkannt haben. (vgl. Lukas 19) In vielerlei Hinsicht waren sie die Gesunden und die, die sich gesund und stark vorkamen, waren krank. Durch Jesus haben wir gelernt, was es heißt, die Menschen mit anderen Augen zu sehen. Mit Augen der Liebe Gottes.

Ich möchte Mut machen die Menschen um uns herum wirklich kennen zu lernen und sie nicht von vornherein in Schubladen einzusortieren. Denn selbst wenn wir sie als Sünder einstufen, sind sie nicht anders als wir. Uns unterscheidet nur, dass Jesus uns schon begegnet ist. Wir sind alle gemeinsam auf dem Weg des Lebens unterwegs. Gemeinde sein heißt miteinander leben, das Leben meistern in all seinen Höhen und Tiefen. Gemeinsam unterwegs sein und sich auf diesem Weg immer wieder von Gott begleiten lassen.

Damaris Werner, Diakonin der Baptistenkirche Nordhorn – Erschienen in der Zeitschrift DieGemeinde 12/2013 am 16.06.2013

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